Pier Paolo Pasolini | Die Poesie der Tradition

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Unselige Generation!
Was wird morgen geschehen, wenn so eine Führungsschicht –
als sie ihre Schritte taten
lernten sie die Poesie der Tradition nicht kennen
machten nur eine unglückliche Erfahrung von ihr, denn ohne
realistisches Lächeln war sie ihnen unerreichbar
und auch bei dem bißchen, was sie von ihr kennenlernten
mußten sie noch beweisen
daß sie’s zwar kennen wollten, aber mit Distanz, unbeteiligt.
Unselige Generation!
Im Winter 70 trugst du phantastische Mäntel und Schals
und warst verwöhnt
Wer lehrte dich so überheblich zu sein?
Du verdrängtest deine göttlich-kindlichen Ungewißheiten –
wer nicht aggressiv ist, ist ein Feind des Vokes! Ach!
Die Bücher, die alten Bücher glitten vorbei unter deinen Augen
wie Objekte von einem alten Feind
du fühltest die Pflicht, nicht nachzugeben
vor Schönheit, hervorgegangen aus vergessenem Unrecht
im Grunde warst du den guten Gefühlen geweiht
gegen die du dich wehrtest wie gegen die Schönheit
mit dem Rassenhaß gegen die Leidenschaft;
du kamst zur Welt, die groß ist und doch so einfach
und fandest dort Leute, die lachten über die Tradition
und nahmst diese vorgetäuscht boshafte Ironie beim Wort
und errichtestest jugendliche Barrikaden
gegen die herrschende Klasse der Vergangenheit.
Jugend geht schnell vorbei; unselige Generation
du wirst älter werden und schließlich alt
ohne genossen zu haben, was du berechtigt warst zu genießen
und was man nicht ohne Sehnsucht und Demut genießt
und wirst so begreifen, daß du der Welt gedient hast
gegen die du voll Eifer »den Kampf vorantriebst«:
Sie war es, die die Vergangenheit ausräumen wollte – ihre!
Unselige Generation, und du gehorchtest im Ungehorsam!
Es war jene Welt, die von ihren neuen Kindern verlangte,
ihr zu helfen, sich zu widersprechen, um weiterzugehen;
ihr werdet altern ohne die Liebe zu Büchern und zum Leben:
perfekte Bewohner jener erneuerten Welt, erneuert
durch ihre Reaktionen und Repressonen, gewiß, schon wahr
aber vor allem durch euch, die ihr rebelliertet
genau wie sie es wollte, Automat weil eben das Ganze;
euch füllten sich nicht die Augen mit Tränen
vor einem Baptisterium mit Zunftmeistern und Gesellen,
strebend bemüht von Saison zu Saison
keine Tränen hattet ihr für eine Renaissance-Oktave,
keine Tränen (intellektuelle, aus reiner Vernunft)
ihr kanntet oder erkanntet weder die Tabernakel der Ahnen
noch die Sitze der Väter-Herren, gemalt von –
und all die anderen erhabenen Dinge
euch läßt nicht zusammenfahren (mit jenen heißen Tränen)
der Vers eines anonymen symbolistischen Dichters, gestorben im –
Der Klasenkampf vertröstet euch und hinderte euch zu weinen:
Verhärtet gegen alles, was nicht nach guten Gefühlen aussah
und nach verzweifelter Aggressivität
verbrachtet ihr eine Jugend
und wenn ihr Intellektuelle wart
wolltet ihr es nicht voll und ganz sein
dabei war dies von all den vielen dann eure wahre Pflicht.
Und warum begingt ihr diesen Verrat?
aus Liebe zum Arbeiter: aber niemand
verlangt von einem Arbeiter,
nicht Arbeiter voll und ganz zu sein!
Die Arbeiter weinen nicht vor den Meisterwerken
aber sie begingen auch keinen Verrat, der erpreßbar macht
und damit unglücklich
Unselige Generation
du wirst weinen, aber leblose Tränen

PIER PAOLO PASOLINI
TRASUMANAR E ORGANIZAR (1971)
ÜBERSETZUNG VON BURKHART KROEBER

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